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Gelesen: Vor dem Sturm (von Theodor Fontante
Weihnachten 1812, die französische Armee wurde in Russland vernichtend geschlagen. In der Mark Brandenburg versucht der alte Junker Berndt Vitzewitz eine preußische Armee gegen Napoleon aufzustellen. Noch stößt er damit auf Zurückhaltung und Widerstand. Sein romantischer, unpolitischer Sohn Lewin macht sich zu alledem keine Gedanken. Für ihn und seine Schwester Renate geht es vor dieser dramatischen Kulisse eher darum, die wahre Liebe zu finden. Kritisch wird es für Lewin erst, als sein Vater Erfolg hat und er sich im Landsturm wiederfindet.

Für seinen ersten großen Roman hat sich Theodor Fontane eine dramatische Kulisse ausgesucht. Preußen ist zwar formal noch selbständig, wird militärisch aber von Frankreich dominierst. Der Leser weiß, dass sich das kurz nach dem gescheiterten Russland-Feldzug Napoleons ändern wird. Der Titel „Vor dem Sturm“ ist aber wörtlich zu nehmen. Berndt Vitzewitz, dem die französische Vorherrschaft seit langem ein Dorn im Auge ist, bemüht sich vor allen anderen darum, einen Landsturm aufzustellen. So schlagen die Dörfer um Vitzewitz bereits zu, als sich alle anderen preußischen Gegenden noch ruhig und loyal präsentieren. Der ganzen Bewegung ist ein Erfolg beschieden. Da Vitzewitz so früh los schlägt, ist der Erfolg von dessen erstem Angriffsplan nicht abzusehbar. Das ist das einzige spannungsbringende Element des Romans.

Denn Theodor Fontan schrieb bekanntlich nicht der Spannung wegen. Die Handlung könnte in wenigen Sätzen zusammengefasst werden. Die dtv-Ausgabe besteht aus etwa 700 Seiten Text mit zusätzlichen 200 Seiten Anmerkungen. Erst nach 600 Seiten hat sich der Landsturm formiert und es kommt zum Überfall auf eine französische Garnison. Bis dahin wird in endlosen Runden über die politische Situation und vor allem über aktuellen Klatsch und Tratsch diskutiert.

Das ist einmal mehr überraschend fesselnd. Fontane charakterisiert eine Vielzahl von Personen, häufig seitenlang. Außerdem beschreibt er den historischen Hintergrund vieler Orte, Dörfer und Schlösser. Auch hierfür gestattet er sich meist ein ganzes Kapitel. Dadurch erschafft er eine sehr lebendige märkische Landschaft in dem Roman, zu der die behäbige Erzählweise wirklich zu passen scheint.

Es ist daher das Beeindruckendste an dem Roman, dass man das Gefühl hat, die Denk- und Handlungsweise einer vor 200 Jahren lebenden Gesellschaft spüren zu können. Natürlich konzentriert sich Fontane dabei auf die Adligen, doch auch Pastoren, Schulzen und Bauern finden in einigen Kapiteln Beachtung. Obwohl viele Charaktere für die eigentliche Handlung nur Nebenrollen sind, wird ihr Hintergrund in etwa so umfangreich ausgebreitet, wie der der Hauptpersonen. Dadurch entsteht ein abgerundetes Bild des gesellschaftlichen Aufbaus zu der Zeit.

Die Liebe spielt selbstverständlich ebenfalls eine Rolle in dem Roman. Hier zeichnet sich bereits ab, dass die „alten“ Werte nicht mehr aufrecht erhalten werden können. Denn während Berndt Vitzewitz mit einem polnischen Adligen bereits Heiratspläne für die gemeinsamen Kinder schmieden, entwickelt sich im Lauf des Romans in dieser Hinsicht alles überraschend anders.

Häufig erschafft Fontane bei seinen Schilderungen eindrucksvolle Bilder. Wenn Lewin nachts durch die Straßen seiner Universitätsstadt wandert, von unerfüllter Liebe getrieben und ihm kommt die geschlagene französische Armee entgegen, die sich durch die eisige Kälte Russlands nach Preußen vorgearbeitet hat, ist das ein starkes Bild, das durch die Sprachgewalt Fontanes sehr berührend ist. Vor allem wenn man bedenkt, dass Lewins Vater bereits daran arbeitet, die leidenden Überlebenden zu vernichten. Diese Doppeldeutigkeit, die sich zu dem sonst zur Schau getragenen Patriotismus gesellt, tut dem Roman gut.

„Vor dem Sturm“ ist ein langer, behäbiger und anstrengender Roman, der nur wenig Handlung bietet. Dafür erlebt der Leser eine eindringliche, wortgewaltige Schilderung der märkischen Adels- und Bauernwelt kurz vor den Befreiungskriegen, mit teilweise beeindruckenden Bildern.

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