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Donnerstag, 21. Oktober 2010
Wie bewertet man einen Menschen?
Die Integrationsdebatte des Finanz- und "Sozialexperten" Sarrazin nimmt mittlerweile immer abstrusere Formen an. Dabei sind die Verhaltensmuster der Parteien nicht nur unverständlich, sondern in vielen Punkten ärgerlich und primitiv.

Wenn ein Konservativer nicht weiter weiß, dann verfällt er in alte Verhaltensmuster. Das liegt in seinem Wesen. Dennoch ist es verwunderlich, in welcher Art die CDU/CSU jetzt wieder nach einer Leitkultur schreien. Denn anstatt sich einfach "nur" eine schwammig Leitkultur zu wünschen, trumpft man diesmal mit dem Schrei nach einer eben so schwammigen wie unsinnigen christlich-jüdischen Leitkultur auf. Da fragt man sich doch, wie vereinbar es denn mit der Religionsfreiheit im Grundgesetz ist, wenn man die "Leitkultur" des Landes mit religiösen Traditionen verbindet. Natürlich hat das Christentum Deutschland enorm geprägt. Aber da kann man nicht unbedingt nur drauf stolz sein.
Der wahre Hohn ist aber doch, dass man das Judentum mit in diese Leitkultur nimmt. Natürlich ist es eine ehrenhafte Sache, die jüdische Tradition in den Begriff "Leitkultur" einzubinden. Aber ein Jude, der sich ein wenig in Geschichte auskennt, muss sich doch wundern. Bis vor 60 Jahren wurden Juden geächtet, ausgestoßen und in vielen Fällen auch getötet. Dabei geschah dies nicht nur über einen Zeitraum von 12 Jahren Nationalsozialismus, sondern über über 1000 Jahre. Und heute stellt sich die Christlich-demokratische Union hin und meint unsere Leitkultur sei auch aus jüdischer Tradition gewachsen?

Dabei könnte man es sich so leicht machen. Warum brauchen wir überhaupt einen schwammigen Ausdruck wie die Leitkultur?
Die Bundesrepublik Deutschland hat ein Grundgesetz. Und dieses Grundgesetz ist ganz besonders gut gemacht, denn es beinhaltet auch viele, viele Werte, die für einen Bürger dieses Landes selbstverständlich sein sollten. Wir brauchen in dieser Debatte keinen Hinweis auf eine Leitkultur, unter der sich niemand was vorstellen kann und die Werte beinhaltet, die über tausende von Jahren in Deutschland verfolgt wurden. Wir brauchen "lediglich" den Hinweis darauf, dass das Grundgesetz die Basis für das Zusammenleben in Deutschland sein muss. Wer das nicht akzeptieren kann, der hat hier auch nichts zu suchen. Für alle anderen müssen aber genügend Anstrengungen unternommen werden, damit sie hier in Deutschland ein möglichst integriertes Leben führen können.

Unser Bundespräsident ist überraschenderweise dabei, auf dem einzig funktionierenden Weg eine Lösung für das Problem zu finden. Er wirbt um Verständnis und Ruhe in der Debatte. Denn je mehr sich die Gemüter erhitzen, desto mehr Vorurteile und Pauschalbewertungen spielen in der Diskussion eine Rolle. Dabei müsste man die Grundlage so schlicht wie möglich halten. Solange sich ausländische Mitbürger an die Werte im Grundgesetz halten, sind sie hier willkommen, ohne dass ihre Religion dabei eine Rolle spielt. Denn in einem Staat mit Religionsfreiheit gehört jede Religion genau so zu dem Staat wie jede andere, auch wenn wir organisatorisch bevorzugte Kirchen haben.

Ärgerlich ist aber nicht nur, mit welchem Unsinn die CDU die Debatte populistisch lösen möchte. Gestern titelten die Grünen auf ihrer Internseite damit, dass ein Punktesystem überfällig sei. Özdemir sprach sich dabei für ein Punktesystem bei Einwanderern aus, dass sie nach ihrer Bildung bewerte und somit Fachkräfte ins Land locken könne. Laut Spiegel Online befürworten auch CDU-Politiker so ein Punktesystem. Erschreckenderweise spricht sich in dem Artikel auch der ehemalige Generalsekretär der SPD Hubertus Heil für dieses System aus.

Was gibt es unwürdigeres als ein Menschen in Punkte einzuteilen?
Laut dem Artikel wolle man sich an Kanada orientieren. Dort bekommt man Punkte nach Bildungsgrad, Alter, Sprachkenntnis und Berufserfahrung. Hier werden Menschen nicht als Menschen gesehen, sondern als Punkte. Aus moralischen Gründen ist so ein System eigentlich nicht zu machen.
Und auch das Ziel eines solchen System ist pervers. Man wird vermutlich nicht mehr ausländische Fachkräfte aus Entwicklungsländer dadurch erreichen. Denn die meisten können durch die Europäische Union eh schon problemlos hier arbeiten. Und auch ein Amerikaner oder ein Kanadier wird damit keine Probleme haben. Nein, man wird in erster Linie ausgebildete Kräfte aus Entwicklungs- und Schwellenländern anziehen. Sprich: Man baut einen geförderten Brain-Drain auf, der solchen Ländern per se die Chance nimmt, sich vernünftig zu entwickeln.

Zumal der Fachkräftemangel in vielerlei Hinsicht selbst gemacht ist. Hubertus Heil zählt zurecht auf, dass jedes Jahr 70 000 Menschen das Bildungssystem ohne Abschluss verlassen, 1,5 Millionen Menschen in Deutschland haben keine Berufsausbildung. Natürlich kann man die nicht alle zu Maschinenbauern ausbilden. Aber unser Bildungssystem muss hartnäckig genug sein, um allen Jugendlichen einen Abschluss nahe zu bringen. Und ich glaube auch, dass man mit einer besseren Struktur, besseren Lehrplänen und mehr Mitteln im Bildungswesen, das Ausbildungsniveau bedeutend steigern könnte. Nein, der wahre Grund für den Fachkräftemangel ist gar nicht so sehr der demografische Wandel, wie immer gesagt wird. Die Unternehmen in Deutschland sorgen einfach nicht für eine vernünftige Nachwuchsausbildung, da sie sich im deutschen Bildungssystem eigentlich überhaupt nicht einsetzen. Da ist das Problem dann selbst gemacht. Bevor wir anderen Ländern ihre teuer ausgebildeten Fachkräfte klauen, sollten wir eher versuchen, aus unseren "Bildungsressourcen" mehr rauszuholen.

So ist die "Integration"-Debatte also ein Beispiel dafür, auf was für einem schwachen Niveau Diskussionen in Deutschland geführt werden. Die Konservativen fallen gleich wieder in alte Schemata zurück und versuchen sich mit rechten Parolen zu profilieren. Die größte Enttäuschung sind aber die Grünen, die ganz offiziell menschenunwürdige Bewertungsmuster anstreben. Das kann man schon beinahe froh sein, dass die "offiziellen" Linien der SPD neben den Äußerungen eines geschassten Generalsekretärs nur "die Leitkulturdebatte ist peinlich" und "Integrationsverweigerer müssen härter rangenommen werden" von Siegmar Gabriel sind.

Dabei wäre das die Chance für die SPD, sich endlich auf dem Feld zu profilieren. Anstatt von einer unsinnigen Leitkultur mit fadenscheinigen religiösen Motiven zu reden, könnte man auf das Grundgesetz als Basis verweisen. Und den unsozialen Grünen könnte man nicht nur ihre eigene Basis, sondern auch ein soziales System aus mehr Bildungsförderung, einer verbesserten Anerkennung von ausländischen Bildungsabschlüssen und das Bemühen um mehr Akzeptanz für "Integrationswillige" entegensetzen. Dafür bedürfte es aber auch einer Öffentlichkeit, die über die Begriffe "christlich-jüdische Leitkultur" und "Punktesystem" hinauszudenken bereit ist. Und das ist der Teil Deutschlands, der in Scharen das Sarrazin-Buch kauft, vermutlich nicht.

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