Diese Reduzierung tut dem Stück richtig gut, denn sie lenkt den Fokus von den bürgerlichen Tugenden. Mit Sir William Sampson ist der gutmütigste und tugendhafteste Charakter aus dem Stück geschrieben. Freilich wird er erwähnt und sein Brief taucht auf, aber seine langen Vergebungszenen entfallen.
Sara wirkt weitaus weniger tugendhaft. Viel mehr verdeutlicht die Inszenierung stärker das naive Mädchen. Insgesamt spielt sie aber eher eine Nebenrolle. Denn die meiste Zeit steht Marwood auf der Bühne und ringt um ihre verflossene Liebe.
Natürlich ist auch hier Marwood dafür verantwortlich, dass Sara am Ende stirbt und Mellefont sich umbringt. Sie kann nicht akzeptieren, dass sie nun nicht mehr geliebt wird und führt alles ins Feld, um Mellefont zurückzuerobern. Dass zum Beispiel ihr Argument, die gemeinsame Tochter Arabella brauche einen Vater, nur vorgeschoben ist, wird dadurch deutlich, dass sich Marwood in keiner Weise um die Belange ihrer Tochter kümmert. Alles was sie im Stück sagt und tut, muss also als List verstanden werden.
Und dennoch wird durch die Straffung deutlicher als im Dramentext, dass sie nicht die alleinig böse ist. Sie ist nicht die einzige, die der bürgerlichen Tugend und damit der Hochzeit Mellefont und Sara im Weg steht. Mellefont selbst hat durch seinen Lebensstil das Unglück heraufbeschworen. Das erkennt er auch im Original und bringt sich daher um. Auf der Bühne aber wird deutlicher, welche Schäden seine Affären hinterlassen haben. Marwood ist zu einem großen Teil das Opfer ihrer eigenen Gutmütigkeit, die von Mellefont ausgenutzt wurde und die sich danach in einen Wahn gesteigert hat. Aber selbst wenn man ihren Liebeswahn ignoriert, bleibt die Tatsache, dass Mellefont sie ihrer gesellschaftlichen Stellung beraubt hat und zu einer entehrten Person gemacht hat. Das scheint ihn kaum zu kümmern, er denkt allein an sich. Dadurch wird noch klarer, dass Mellefont die egozentrische Person in dem Stück ist, die zwar die wahre Liebe gefunden hat, sie aber nicht verdient. Tragischerweise vernichtet eine alte Liebe seine wahre Liebe und damit auch ihn.
Die Darstellung Marwoods in der Inszenierung des Berliner Ensembles überzeugt und ist sehr eindringlich. Die Kürzungen und Veränderungen des Stückes tun ihr genau so gut, wie die behutsame Modernisierung durch das Verwenden von Mobiltelefonen. Sehr gelungen ist daüber hinaus, dass zu Beginn, in der Mitte und am Schluss Fabeln zitiert werden, die höchstwahrscheinlich an den bekannten lessingschen Fabeln angelehnt sind. In ihnen dreht es sich zunächst um einen alternden Wolf, der auf die Hartherzigkeit der Welt mit rasendem Wahn reagiert (Marwood), und später um ein Schaf, das erst von Zeus eine Verteidigung gegen Feinde erbittet und sie ablehnt als es erkennen muss, dass dies seinen Charakter verändern wird und sich zum Schluss (diesmal für Jupiter) bereitwillig opfern lässt. Diese beiden Fabeln werden natürlich von Sara zitiert.
Die Inszenierung macht aus dem etwas gemächlichen und umfangreichen Werk eine berührende, gefühlvolle und dramatische Aufführung. Dabei stehen nicht so sehr die heilsamen bürgerlichen Werte und die „reinen“ Möglichkeiten des Bürgertums im Mittelpunkt, sondern das Leid, das durch das Erlöschen einer Liebe und die darauf folgende Eifersucht ausgelöst werden kann. Das nimmt den Zuschauer mit und lässt ihn nicht nur mit dem gescheiterten Paar, sondern auch mit der rasenden, liebestollen Marwood leiden.