Gelesen:Der Stechlin (Theodor Fontane)
„Zwei Leute heiraten, ein alter Mann stirbt“ - so ähnlich soll Fontane seinen letzten Roman beschrieben haben. Tatsächlich ließe sich die Handlung auf den Satz verknappen. Dennoch gelingt es Fontane, mit dieser Handlung 460 Reclam-Seiten zu füllen.
Das müsste eigentlich in gähnender Langeweile enden.
Davor wird der Roman jedoch von Fontanes detaillierten Beschreibungen bewahrt. Seitenlang nimmt er sich Zeit, um die verschiedensten Figuren einzuführen.
Da gibt es den alten Stechlin, der im Schloss Stechlin, im Dorf Stechlin, am See Stechlin wohnt. Da gibt es einen Musiklehrer in Berlin, der nur einen Doktor gemacht hat, um seinen skandinavischen Vornamen abzulegen, eigentlich Pole ist und bei jeder Erwähnung von etwas skandinavischem gleich ärgerlich wird.
Dann gibt es im Dorf Stechlin einen Pfarrer, der eigentlich die Konservativen (zu denen Stechlin gehört) unterstützt, andererseits aber auch sozialdemokratische Positionen vertritt und aus dem man nicht wirklich schlau wird.
Und in der Art gibt es noch mindestens zwei Dutzend weitere wichtige und unwichtige Personen, die teilweise skuril, teilweise langweilig aber immer authentisch beschrieben werden.
Immer gibt es dabei den Kontrast zwischen Alter und Neuer Zeit. Auf der einen Seite stehen die Konservativen, auf der anderen die Sozialdemokraten. Die einen wollen in der Region heiraten, die anderen sehen das als altmodisch an. Der eine macht sich wegen Standesunterschieden sorgen, der andere hat das schon überwunden.
Der Roman ist 1899 erschienen, also mitten in der Kaiserzeit. Nach der Lektüre hat man das Gefühl, ein außerordentlich gutes Bild der damaligen Gesellschaft zu haben. Freilich kann dieses Gefühl trügen, denn ein Roman ist keinesfalls der ausschließlichen Wahrheit verpflichtet. Doch viele der aufgeworfenen Themen und Fragen (und davon gibt es mehrere in dem Roman) werden die damalige Gesellschaft wohl wirklich bewegt haben.
Zu allem kommt noch ein extrem langsames Erzähltempo. Die Charaktere treffen sich an den verschiedensten Orten und unterhalten sich. Wenn keine Landschaft beschrieben wird oder das Innenleben von Charakteren erkundet wird, dann unterhalten sich die Menschen. Teilweise geht das seitenlang so. Das ist manchmal anstrengend. Meistens wird es durch Fontanes Stil aber relativ angenehm gemacht.
Dem Roman fehlt jedoch ein dicker roter Faden. Natürlich gehört alles zusammen und jedes Kapitel hat seine Funktion. Aber es fehlt eine Geschichte, die große Spannung erzeugt.
Darum geht es in „Der Stechlin“ aber auch gar nicht, dennoch fehlt es.
Und so ist „Der Stechlin“ keine Tragödie und auch keine Komödie. Zwar gibt es traurige und auch urkomische Momente, doch eigentlich ist es nichts weiter als eine Situationsbeschreibung. Allerdings eine Situationsbeschreibung die unglaublich authentisch und nah wirkt und Gegensätze herausarbeitet. Das Beides regt immer wieder zum Weiterlesen an.